Mare E Monti


Fernwandern auf Korsika

Die Tränen kamen nicht

„Ok", hab ich mir gesagt, „wenn Du möchtest, dann kannst Du jetzt weinen.“ Aber die Tränen kamen nicht. Es war erst der dritte Tag auf meiner sechsttägigen Tour auf dem Fernwanderweg „Mare e Monti“ im Nord-Westen Korsikas und irgendwie lief das alles nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich war gerade ziemlich mühsam einen steilen Hügel mit meinem 20-Kilo Rucksack hochgelaufen, im Geröll auf der anderen Seite ausgerutscht und auf dem Hosenboden gelandet. Dabei hatte ich mir nun auch noch den Ellenbogen aufgeschürft. Außerdem hatte ich noch nicht mal die Hälfte des Tagespensums geschafft und wollte am liebsten jetzt schon angekommen sein. Langsam fragte ich mich, was ich hier eigentlich machte, und fand es was einen adäquater Moment meiner Frustration freien Lauf zu lassen. Aber die Tränen kamen nicht.

Déjà-vu

Ich war mit großem Enthusiasmus auf dem Mare e Monti Fernwanderweg gestartet und hatte mich sehr auf die Zeit allein gefreut. Der komplette Fernwanderweg führt in 75 Kilometern und etwa 7800 Höhenmetern in ca. acht Tagen von Calenzana nach Cargèse. Ich bin nach dem vierten Tag allerdings an der Küste geblieben, anstatt ins Landesinnere weiter zu wandern und habe die Tour mit der Besteigung des Capu d’Otta am sechsten Tag abgeschlossen.  

Während ich mitten auf dem Wanderweg saß, hatte ich ein Déjà-vu, als ich 2018 um die Annapurna in Nepal gewandert bin. Damals wollte ich dreißig Tage unterwegs sein und gab schon nach ein paar Tagen fast auf. Es war so anstrengend mit dem schweren Rucksack zu wandern und ich war so langsam. Ich konnte den Weg gar nicht richtig genießen, weil ich so darauf fokussiert war, wie schnell die anderen Wandernden waren und war ziemlich frustriert. Es hat fast eine ganze Woche gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, dass man beim Weitwandern einfach nicht schnell vorankommt und man Zeit und Geduld braucht. Sobald ich das verinnerlicht hatte, war ich gefühlt viel schneller und kam langsam aber steig an mein Ziel.

Einen Gang runterschalten

Nachdem ich wochenlang Termine und To-Do-Listen abgearbeitet hatte, konnte ich es kaum ertragen acht Stunden einfach nur zu wandern und mich meinen eigenen Gedanken hinzugeben. Ein schlechtes Gewissen nichts geschafft zu haben schlich sich ein. Worauf ich mich seit langem gefreut hatte, konnte ich jetzt kaum genießen. Mit dem Pensum an Arbeit, Studium und Bergwanderausbildung hatte ich über die letzten drei Jahre fast vergessen einfach nur den Moment zu genießen. Immer noch etwas frustriert stand ich auf und lief weiter. Als sich der Weg teilte, entschied ich mich allerdings meinen Rucksack hinter einem Busch zurückzulassen und einen Abstecher zu einem Strand zu machen. Es waren nochmal 150 Höhenmeter extra, daher hatte ich zuvor schon darüber debattiert, ob ich weiterlaufe oder nicht. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass ich genug Zeit hatte und mich im nächsten Dorf nichts erwartete, und zum Strand lief. War das nicht, warum ich überhaupt diese Route gewählt hatte? Der Strand war menschenleer, da er nur über den Wanderweg erreichbar war oder per Boot. Die Einsamkeit überwältigte mich und ich fühlte mich reich – reich an Zeit und Natur.

Im Nachhinein war ich etwas verblüfft, dass die Tränen nicht gekommen sind. In den Monaten zuvor gab es genug Momente, wo mich Emotionen überwältigt haben, weil mich meine Entscheidung und deren Konsequenzen überforderten. Auf dem Wanderweg frustriert sitzend hat sich bei mir ein Schalter umgelegt und mir kam die leise Ahnung, dass das Schlimmste geschafft ist – die Entscheidung getroffen zu haben. Jetzt muss ich nur lernen den Weg, für den ich mich entschieden hatte, zu genießen.   

Weltkulturerbe im Herzen Korsikas

Der Wanderweg führte in ein kleines Fischerdorf, Girolata, von wo aus die beeindruckende Steilküste, La Scandola, beginnt. Die Halbinsel zählt wegen ihrer beeindruckenden Schönheit sowie reichen Artenvielfalt und Vegetation seit den 80ern zum UNESCO Weltkulturerbe und zieht vor allem im Sommer Touristinnen und Touristen in Scharen an. Jedoch gibt es einen weniger bekannten Wanderweg entlang der Küste bis fast ganz nach Porto, den ich die nächsten drei Tage entlanggewandert bin.  Die Mischung aus steiler, felsiger Küste, unterbrochen von einsamen Sandstränden entlang des kristallklaren Meeres und die milden Frühlingstemperaturen machen La Scandola zu einem hervorragenden Wanderziel.

Am Ende den Moment genießen

In einer so schnelllebigen Welt hilft Fernwandern mir, mich wieder auf das zu konzentrieren, was mir im Leben wichtig ist. Wo Zeit unsere knappste Ressource ist, werde ich gezwungen, langsamer zu werden und daran erinnert, dass das Erreichen von Zielen Geduld erfordert. Es verschafft Raum, über all das nachzudenken, was ich unterbewusst verdränge. Das ist zwar nicht immer einfach, aber am Ende fühlt es sich sehr befreiend an.

Ich bin voll erholt nach Hause gekommen, habe meine Ehrgeiz hinterfragt und meine Ziele neu ausgerichtet. Während ich zu Beginn ein wenig Angst davor hatte, Shanti Treks aufzubauen, freue ich mich auf die Herausforderung. Und nachdem mir klar geworden ist, dass ich viel zu sehr damit beschäftigt war, mich der Welt zu beweisen, fokussiere ich mich jetzt darauf, die Reise zu genießen und zu sehen, wohin sie führt.