Gokyo Ri (5357 m)

"Die Welt braucht nicht noch mehr erfolgreiche Menschen. Die Welt braucht dringend mehr Menschen, die Frieden stiften, heilen, wiederherstellen, Geschichten erzählen und Liebende aller Art."

-  His Holiness, the Dalai Lama -

Ein Moment der Ruhe in den Bergen

Es ist Mittag, wenige Tage vor Weihnachten, ich sitze auf über 5000 Metern Höhe und blicke aus nächster Nähe auf den höchsten Berg der Welt. Es fühlt sich irgendwie surreal an, dass ich nun den höchsten Punkt meiner Wanderung seit über drei Wochen erreicht habe und damit das Ende naht. In ein paar Tagen werde ich wieder in Kathmandu sein und heiße Duschen, echten Kaffee und Pizza genießen. Aber vorerst bleibt die absolute Stille der Berge und ich habe den Moment für mich allein.

Unterwegs in Solukhumbu

Meine Wanderung begann in Jiri, wo auch Tenzing Norgay und Edmund Hillary 1953 begannen, als sie zum ersten Mal in der Geschichte den Mount Everest, d. h. Sagarmatha (auf Nepalesisch) oder Chomolungma (auf Tibetisch), bestiegen. Von hier aus nahm ich mir zwei Wochen Zeit, um die untere Khumbu-Region, d.h. Solukhumbu, zu erkunden. Ein Höhepunkt war der Pikey Peak (4065 m), der den ersten näheren Blick auf Chomolungma (8849 m) und sechs der anderen acht Berge über 8000 Metern in Nepal bot.

In meiner zweiten Woche schloss sich Priyanka, eine Freundin aus Indien, an und wir wanderten gemeinsam zum Dudh Kunda (4600 m), einem wunderschönen milchigen See. Unterwegs traf ich einige lokale Teehausbesitzer, die eine neue Route zusammenstellen, um die beiden Höhepunkte in einer wunderschönen Rundwanderung zu kombinieren. Sie ist selbst unter den Trekking Guides in Kathmandu noch unbekannt, wie ich später erfuhr. Deshalb habe ich großes Interesse daran, nächstes Jahr im November einen Shanti Trek dorthin zu führen und eine der ersten zu sein, die sie mit meinen Gästen erkundet. Nach Solukhumbu kam ich in den Sagarmatha National Park, um zu den Gokyo-Seen hinaufzuwandern, wobei der Gipfel des Gokyo Ri (5357 m) hoch über den Seen gelegen der höchte Punkt meiner Trekking-Tour werden sollte.

Kleine Begegnungen in den Dörfern

In den letzten zwei Monaten des Trekkings rund um den Manaslu und in der Everest-Region habe ich gemerkt, dass die extremen Höhen für mich weniger reizvoll geworden sind. Als ich Freund*innen zum ersten Mal von meinem Plan erzählte, den Everest alleine zu umrunden, fragten viele, ob ich einen der einfacheren 6000-Meter-Gipfel besteigen werde. „Einfacher“ ist relativ, da sie immer noch Steigeisen, Eispickel und Seilarbeit erfordern, aber auch für weniger (oder gar nicht) erfahrene Bergsteigende machbar sind. Ich habe darüber nachgedacht, aber am Ende war es zu spät in der Saison. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich am liebsten zwischen 3.000 und 4.000 Metern wandere, wo die Temperaturen kühl, aber nicht zu kalt sind. Die Höhe ist erträglich und ich kann nachts immer noch gut schlafen, was umso schlimmer wird, je höher man kommt. Und das Wichtigste ist, dass die Flora und Fauna immer noch vielfältig ist und es entlang des Weges viele lebhafte Dörfer gibt. Oberhalb dieser Höhe wird die Landschaft karg und es gibt keine Dörfer mehr. Für mich ist es die Interaktion mit den Einheimischen, die den Himalaya zu einem so schönen Trekkingziel macht.

Woher der höchste Berg der Welt seinen Namen hat

Glücklicherweise sind viele der ausländischen Tourist*innen anderer Meinung und lassen die unteren Teile von Solukhumbu aus. Sie fliegen direkt nach Lukla, um schnellstmöglich in den Sagarmatha  National Park zu gelangen und innerhalb kürzester Zeit zum Everest Basecamp (EBC) zu wandern, das über 5000 Meter liegt. Dieser Ansatz ist allein schon problematisch, da er ein hohes Risiko für die akute Höhenkrankheit (Acute Mountain Sickness, AMS) birgt. Wie in meinem vorherigen Blog ausführlicher beschrieben (lies den Artikel hier), ist es wichtig, langsam in die Höhe aufzusteigen, um dem Körper Zeit zur Akklimatisierung zu geben. Selbst die gängigste Route zum EBC macht es manchen Wandernden schwer, den EBC-Trek zu beenden, da sie zu schnell aufsteigen und mit Müdigkeit, starken Kopfschmerzen oder Erbrechen kämpfen oder sogar schwer krank werden und die Wanderung vorzeitig beenden müssen. Das wirklich Traurige ist, dass viele Wandernde AMS nicht kennen und einfach der Reiseagentur vertrauen, mit der sie reisen.

Fast jede*r, die/den ich auf meiner Tour traf, war auf dem Weg zum EBC, und niemand konnte verstehen, warum ich kein Interesse daran hatte, dorthin zu wandern. Für mich ist der Mount Everest das Symbol für alles, was in der Art und Weise, wie wir in den Bergen wandern, schief läuft. Es beginnt schon mit dem Namen „Everest“, den ihm die Briten während ihrer Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert verliehen haben. Ein indischer Mathematiker schätzte die Höhe des Berges, der Name wurde jedoch nach dem ehemaligen indischen Generalvermesser und Leiter der nationalen Kartierungsbehörde des Landes vergeben. George Everest war weder an der Entdeckung des höchsten Berges der Welt beteiligt, noch hat er ihn jemals zu Gesicht bekommen. Außerdem hatte der Berg bereits zwei Namen. Auf Tibetisch heißt sie Chomolungma, was „Göttin, Mutter der Welt“ bedeutet, und auf Nepalesisch heißt sie Sagarmatha, was „Göttin des Himmels“ bedeutet. Beide Namen scheinen die Bedeutung dieses Berges viel mehr zu würdigen, als ihn nach einem alten weißen Mann zu benennen, der absolut nichts mit ihm zu tun hatte. Man könnte meinen, dass die bergsteigende Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts einen Anreiz hat, dieses Fehlverhalten zu korrigieren, stattdessen trotten wir immer noch in Massen zum Everest Basecamp ohne ganau zu wissen, woher der Berg eigentlich seine Namen hat.

Das Geschäft am Everest

Während ich in Richtung der Gokyo-Seen wanderte, änderte eine Gruppe Einheimischer das Schild am EBC von „Everest“ in „Chomolungma“-Basislager. Dies löste eine Debatte in den sozialen Medien aus, in der viele aus dem Ausland ihre Meinung äußerten – als hätten wir ein Mitspracherecht bei der Namensgebung eines südasiatischen Berges. Theoretisch sollten wir ihn nicht einmal erklimmen. In der tibetischen Kultur leben Göttinnen und Götter auf vielen Berggipfeln und diese sind daher heilig. Chomolungma, die Göttin der Mutter der Welt, lebt auf dem höchsten Berg und sollte eigentlich nicht gestört werden. Daher führen die örtlichen Sherpa Rituale vor jeder Besteigung durch, um die Göttin zu besänftigen. Doch wenn sie einer/einem Bergsteiger*in das Leben nimmt, gehört es ihr und sie hält sie oder ihn am Berg. Die Bilder der Warteschlangen bis zum Gipfel des Chomolungma sind weit bekannt und man kann sich sicherlich den Müll vorstellen, den jede Expedition auf dem Weg zurücklässt.

Es gibt das Argument, dass die Besteigung des Chomolungma ein großartiges Geschäft für Nepal sei, aber ich halte das für etwas kurzsichtig, da das große Geld nur bei einer Handvoll sowieso schon reicher Menschen ankommt. Ich habe in einem Gästehaus übernachtet, dessen Besitzer als „High Altitude Porter“ arbeitet, d.h. er trägt die Ausrüstung von Bergsteigenden in die höchsten Lager über 5000 Meter. Abends erzählte er mir von seiner Arbeit, die er nur im Mai ausführen kann, dem einzigen Monat des Jahres, in dem Chomolungma bestiegen werden kann, da dann die Winterwinde aufhören und der Monsun noch nicht angefangen hat. Es ist sicher gutes Geld, aber es ist harte körperliche Arbeit und gefährlich. Wenn er die Wahl hätte, würde er die Arbeit lieber nicht machen, aber das Geld ist zu gut, um die Arbeit abzulehnen.

Auf der Autobahn nach Namche Bazar

Es ist nicht nur das Gipfelgeschäft, das unhaltbar und falsch erscheint, auch die EBC-Wanderung selbst unterscheidet sich grundsätzlich von allen Wanderungen in Nepal, die ich zuvor gemacht habe. Nach Solukhumbu ändert sich der Weg erheblich, wenn man Lukla passiert hat, wo sich der Flughafen befindet und von dem die meisten Wandernden starten. Von da an sind die Häuser größer und wohlhabender, und unterwegs gibt es alle zwanzig Minuten Unterkünfte. Das ist an sich keine schlechte Sache. Aber ich traute meinen Augen nicht, als ich in Phakding, dem nächsten großen Dorf und ersten beliebten Zwischenstopp nach Lukla, ein Irish Pub, eine Snooker-Bar und einen Massagesalon sah. Instinktiv lief ich weiter und fand im folgenden Dorf ein nettes kleines Gästehaus (Magar Kitchen & Home in Toc Toc), in dem es wieder etwas ruhiger war. Am Abend setzte sich Milan, der Besitzer, zu mir an den Ofen und erzählte mir, wie sich das Trekking in den letzten 20 Jahren seit seinem Umzug dorthin verändert hat. Am Ende fragte er mich, was ich von der Jeep-Straße halte, die sie bis Monjo, dem nächstgelegenen Dorf und offiziellen Eingang des Parks, bauen wollen. Das ist immer eine schwerige Frage – die meisten Wandernden genießen das Wandern abseits befahrbarer Straßen, daher wird wahrscheinlich der Tourismus nachlassen, aber das Leben der Einheimischen wird natürlich viel einfacher, wenn sie mehr Waren transportieren und an Orte schneller gelangen können.

Von Lukla aus wanderte ich mit vielen Trekkenden zwei Tage lang bis nach Namche Bazar, wo sich der Weg wieder teilte – nach Norden zu den Gokyo-Seen und nach Osten zum EBC. Jeden Tag kamen Hunderte von Eseln an uns vorbei, die Waren hinauf nach Namche, die größte Stadt der Region, transportierten und wieder herunterkamen. Über uns flogen alle zwanzig Minuten Hubschrauber. Die meisten von ihnen transportierten (höhen-)kranke Wandernde von EBC zurück nach Lukla, und einige machten Hubschrauberrundflüge im Nationalpark, eine weitere Kontroverse auf dem Vormarsch. Im Oktober flogen etwa 50 amerikanische CEOs von Lukla zum 5545 Meter hohen Aussichtspunkt Kala Patthar, um Selfies vor Chomolungma zu machen und nach Kathmandu zurückzukehren, was über 100.000 US-Dollar kostete. Der Nationalpark hat ein Verbot kommerzieller Rundflüge ab Januar 2025 angekündigt, das von der örtlichen Gemeinde aufgrund von Bedenken wegen Umweltschutz und Einbruch der lokalen Wirtschaft initiiert wurde. Die Luftfahrtaufsichtsbehörde hat das Verbot jedoch nicht bestätigt und die Hubschrauberunternehmen haben bereits angekündigt, diese Flüge fortzusetzen.

Wieder auf ruhigeren Wegen

Nachdem ich die offizielle EBC-Wanderung wieder verließ und mich auf den Weg zu den Gokyo-Seen machte, fand ich wieder meinen eigenen Rhythmus, indem ich größtenteils alleine wanderte und nur gelegentlich an einer Yak-Herde oder einigen Mitwandernden vorbeikam. Die Landschaft ist unglaublich atemberaubend und ich verstehe, warum der Sagarmatha Nationalpark für seine Schönheit so berühmt ist. Doch wie bei jedem „Berühmtesten“ gibt es Möglichkeiten, es zu genießen, ohne den Menschenmassen ausgesetzt zu sein und den Massentourismus zu unterstützen. Ich habe nicht in Namche oder einem der anderen beliebten Orte übernachtet, sondern bin jeden Tag ein Stück weitergewandert. So übernachtete ich in ruhigen Gästehäusern und startete den Tag alleine auf den Wanderwegen. Ich bin auch in der Nebensaison gewandert, was bedeutete, dass es nachts kalt war, tagsüber aber auch sehr klares Wetter mit hervoragender Weitsicht  gab. Und ich entschied mich dafür, zu den weniger bekannten Gokyo-Seen zu wandern, statt zum Everest Basecamp.

Insgesamt hat mir mein Erlebnis an den Seen sehr gut gefallen. Das Gästehaus war fantastisch und der See wahrscheinlich der schönste Ort, den ich bisher in Nepal gesehen habe. Als ich im Nationalpark ankam und sah, wie kommerzialisiert der EBC-Trek ist, hätte ich nicht gedacht, dass ich hier einen Shanti Trek organisieren möchte. Aber nachdem ich in der Nebensaison in den weniger beliebten Dörfern übernachtete und die atemberaubenden Seen von Gokyo gesehen habe, freue ich mich schon darauf, eine Wanderung dorthin zusammenzustellen, die auf meinen Erfahrungen basiert. Ich habe bereits mit dem Besitzer des Gästehauses, der das Gästehaus einen Tag nach meiner Abreise bis März geschlossen hatte, darüber gesprochen, ob er es über Weihnachten öffnen würde, wenn ich mit einer Gruppe komme, und er war von der Idee begeistert. Weihnachten auf 4760 m in einer Hängematte mit Blick auf die Gokyo-Seen zu feiern, kann meiner Meinung nach ganz magisch sein.

Berge sind meine Therapie

Die letzten drei Wochen dienten mir nicht nur dazu, neuen Routen für Shanti Treks zu erkunden, sondern es war auch das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich mir wirklich Zeit für mich selbst nahm. An den Seen habe ich sogar vier Tage lang mein Telefon ausgeschaltet – etwas, das ich oft getan habe, bevor ich mein eigenes Unternehmen gegründet habe, aber seitdem überhaupt nicht mehr. Wenn ich mit dem Fernwandern beginne, dauert es immer ein paar Tage, bis ich langsamer werde, meine Umgebung genieße und mich nach innen wende, um mich mit all dem ungeklärten Restmüll zu befassen, der sich in meinem Inneren angesammelt hat. Es gibt viele verletzte Gefühle, Unsicherheiten und unvollendete Auseinandersetzungen, die uns im Gedächtnis bleiben und die wir nie wirklich verarbeiten. Die Berge sind ein Ort, an dem ich mich mit diesen Themen auseinandersetze, darüber nachdenke, sie aus allen möglichen Blickwinkeln betrachte und versuche zu verstehen, warum Dinge so geschehen, wie sie geschehen, warum Menschen Dinge sagen oder tun und was das alles für mich bedeutet . Mein Körper ist jetzt müde und erschöpft, aber mein Geist ist klar, ruhig und gereinigt von allem, was über die Zeit liegen geblieben ist. Und ich bin bereit und gespannt auf alles, was 2025 für mich geplant hat.