
Die Umrundung des Manaslu
"Ein Baum mit starken Wurzeln kann dem heftigsten Sturm standhalten, aber der Baum kann nicht erst Wurzeln schlagen, wenn der Sturm schon am Horizont steht."
Auf dem Weg um den Manaslu
Während unserer ersten Wanderwoche im Tsum-Tal schien die Überquerung des Passes in weiter Ferne zu liegen. Da wir wussten, dass wir noch zwei Wochen auf dem Manaslu Circuit vor uns hatten, konnten wir die Zeit in vollen Zügen genießen und uns an den Tagesrhythmus des Wanderns sowie an das Klima, das ungewohnte Essen und die einfachen Unterkünfte gewöhnen. Als wir durch das Tor des Tsum-Tals hinausgingen und die Hängebrücke überquerten, um wieder auf den Manaslu-Circuit zu gelangen, war der Pass plötzlich ganz nah. Ich konnte spüren, dass meine Gäste ein wenig besorgt waren, den Pass auf 5106 Metern zu überqueren – eine Höhe, die die meisten von ihnen noch nicht einmal annähernd erreicht hatten. Deshalb wollte ich sie bestmöglich vorbereiten und vor allem wollte ich, dass sie den Tag der Überquerung wirklich genießen.



Wie wichtig es ist sich langsam an die Höhe zu gewöhnen
Mit mehr als hundert Trekkingtagen im Himalaya und Dutzenden hohen Passüberquerungen war mir bewusst, wie wichtig die Akklimatisierung für uns ist. Ich habe im Laufe der Zeit viele Wandernde getroffen, die in den Himalaya kamen und nicht genug Zeit hatten, um sich in so kurzer Zeit zu akklimatisieren. Die Probleme lösen sie oft mit Medikamenten, anstatt sich Zeit zu nehmen. Obwohl dies theoretisch funktionieren kann, dämpft es mindestens das Erlebnis. Was man in diesen Bergen wirklich braucht, ist Ausdauer und Belastbarkeit, und das baut man mit der Zeit auf. Es ist nicht nur wichtig, sich zu akklimatisieren, sondern auch einfach schön, alles um sich herum in vollen Zügen zu erleben. Daher habe ich meinen Gäste nahe gelegt, Zeit mitzubringen. Insgesamt dauerte unsere Reise 23 Tage, davon wanderten wir 19 Tage in den Bergen.



Wandere hoch, schlafe tief
Neben vielen anderen individuellen Überlegungen gibt es drei allgemeine und bekannte Faustregeln, die bei der Akklimatisierung an große Höhen zu beachten sind. Erstens: Schlafe nicht höher als 300 – 500 Meter pro Tag. Zweitens: Legen alle drei Tage oder alle 1000 Höhenmeter einen Ruhetag ein, d. h. schlafe auf gleicher Höhe. Und zu guter Letzt: Gehe jeden Tag etwas höher, als Du schläfst. Weniger im Vordergrund steht jedoch die Bedeutung des langsamen Gehens. Wenn man andere Wandernde auf dem Weg beobachtet, scheint es manchmal geradezu unpopulär zu sein. Aus persönlicher Erfahrung halte ich es jedoch für die wichtigste Regel überhaupt. Deshalb wichen wir bald von der Hauptroute ab und übernachteten zwei Nächte in einem kleinen Dorf, um uns zu akklimatisieren.
Am nächsten Morgen machten wir uns noch vor Tagesanbruch auf den Weg, 1200 Meter hinauf zu einem wunderschönen und Heiligen Bergsee auf 3600 Metern zu wandern. Es ist nicht erlaubt, im See zu schwimmen, da dort die örtlichen Götter leben. Deshalb machte der ortsansässige Guide, der uns zum See führte, ein kleines Feuer, um die Götter zu ehren und ihnen dafür zu danken, dass sie uns in ihrem Zuhause willkommen geheißen haben.



Die Lehren des Dalai Lama
In solchen Momenten holte ich stets einen Beutel voll mit kleinen Zetteln, auf denen Zitate des Dalai Lama geschrieben waren, hervor. Ich ließ jemand aus der Gruppe zufällig einen Zettel ziehen und las das Zitat vor. Mit dieser kleinen Achtsamkeitsübung wollte ich die besondere spirituelle Umgebung, in der wir jeden Tag wandern, einfangen und einen Impuls geben, sich damit zu verbinden. Ich hoffte, meinen Gästen die Lehren des Dalai Lama über Liebe und Mitgefühl und seine Ratschläge, wie man Geduld und Freundlichkeit praktiziert, näherzubringen. Ich wusste nicht, ob meine Gäste für eine solche Praxis offen sein würden, aber am Ende erinnerten sie mich jeden Tag daran, unsere Achtsamkeitsübung nicht zu vergessen, und wir begannen sie mit einer kurzen Meditation zu beenden, in der wir über das Thema nachdachten und es manifestierten.



Wandern im Shanti-Tempo
Während diese Wanderung atemberaubend schön war, öffnete sie einigen meiner Gäste auch ein wenig die Augen. Als wir morgens starteten, begann ich mein übliches langsames Shanti-Tempo und fiel bald hinter die Gruppe zurück, die rasch bergauf ging. Es dauerte nicht lange, bis die ersten anhielten, mich aufholen ließen, um dann in einem langsameren und gleichmäßigeren Rhythmus weiterzulaufen. Es überraschte mich auch nicht, als einer der Ersten am See erschöpft war, und es kaum erwarten konnte, zu Mittag zu essen. Wir hatten morgens nur wenig gefrühstückt, daher hatten wir kaum was im Magen, um schnell Kalorien zu verbrennen, was dazu führte, dass mein Gast ziemlich wenig Energie hatte. Im Gegensatz dazu hilft langsames Wandern dem Körper, Fett, statt Kohlenhydrate zu verbrennen, da der Körper bei Aktivitäten mit geringer Intensität und langer Dauer gespeichertes Fett besser zur Energiegewinnung nutzen kann. Umso besser ist es, bei leerem Magen langsam zu wandern. Bei einer 19-tägigen Wanderung ist es zudem wichtig, möglichst viel Energie zu sparen, um Tour als Ganzes, und vor allem die anstrengenden Tage, zu überstehen. Im Idealfall fühlt sich keiner der Trekkingtage wie ein „richtiges Training“ an, sondern eher wie ein „Spaziergang im Park“. Was ich auf meinen bisherigen Fernwanderungen gelernt hatte, war für die meisten meiner Gäste gewöhnungsbedürftig.
Allerdings ist es auch nicht ungewöhnlich, dass der Körper bei einer so langen Tour irgendwann müde wird oder die Gesundheit leidet. Vor allem die einfache Unterbringung und Verpflegung unterwegs führt manchmal zu gesundheitlichen Problemen. Bei einem engen Zeitplan ist es fast unmöglich, sich von einem anstrengenden Tag oder auch nur einer kleinen Magenverstimmung zu erholen, obwohl oft ein Ruhetag ausreichen würde. Daher planten Surya und ich, während der dreiwöchigen Tour einmal pro Woche zwei Nächte im selben Gästehaus zu verbringen, um den Gästen die Möglichkeit zu geben, sich auszuruhen, falls das nötig ist. An jedem dieser „Ruhetage“ hatten die Gäste die Wahl, eine Akklimatisierungswanderung zu machen – hoch wandern, tief schlafen – oder sich auszuruhen und zu erholen. Zusätzlich haben wir einen freien Tag eingeplant, den wir für Notfälle nutzen konnten. Am Ende brauchten wir den Tag allerdings nicht und genossen stattdessen einen entspannten Tag in Kathmandu. Dennoch gab es mir (und meinen Gästen) die Gewissheit, dass es immer möglich war, einen zusätzlichen Ruhetag einzulegen, wenn es ihnen nicht gut ging.




Langsamer gehen, um schneller zu werden
Nach unserem Erlebnis am See begann sich das Tempo innerhalb unserer Gruppe anzugleichen und wurde gleichmäßiger, dennoch schienen wir insgesamt schneller zu werden. Aufgrund unseres Abstechers ins Tsum-Tal hatten wir uns inzwischen gut an die starke Sonne, die Hitze und die Höhe gewöhnt und kamen schneller voran als die meisten Gruppen auf der Wanderung. Wie ein Rudel Wölfe liefegn wir entspannt an anderen Gruppen vorbei und stundenlanges Gehen am Tag schien uns eher eine Selbstverständlichkeit als harte Arbeit zu sein. Nach den ersten zwei Wochen des Wanderns hatte ich das Gefühl, dass wir uns in einem wunderbaren Flow befanden, und ich war zuversichtlich, dass jeder von uns diese anspruchsvolle Tour bis zum Ende durchhalten würde.



In der Höhe
Ein paar Tage später kamen wir in Samdo an, dem letzten richtigen Dorf vor der Passüberquerung. Von Samdo aus gibt es eine wunderschöne Wanderung zum Layung La-Pass (4998 m) an der tibetischen Grenze, die die Gruppe gleich interessierte, als Surya sie bei unserer ersten Tourbesprechung in Kathmandu erwähnte. Ich behielt es im Hinterkopf und als ich sah, wie gut sich die Gruppe akklimatisiert hatte, besprach ich mit Surya, die Reiseroute zu ändern. Anstatt weiter unten in Samagaon zu bleiben, liefen wir weiter nach Samdo und blieben dort zwei Nächte. Bei einer Strecke von 20 Kilometern und 1300 Höhenmetern brauchten wir für die Wanderung nach Layung La und zurück zehn Stunden. An diesem Tag hatte ich besonders wenig Energie und ich tat mir anfangs schwer in meinen Rhythmus zu kommen. Am Ende übernahm ich jedoch das Tempo der Gruppe und wir kamen alle auf einmal am Pass an. War meine Gäste der Mammutwanderung im Vorfeld skeptisch gegenüber, waren alle ziemlich euphorisch, dass wir es geschafft hatten, als wir auf dem Pass ankamen. In dieser Höhe hatte ich das Gefühl, endlich zeigen zu können, wie einflussreich das langsame Shanti-Tempo ist.



Tibet so nah



Weiter geht es Richtung Larkya La
Am nächsten Tag hatten wir nur eine halbtägige Wanderung zum Hochlager von Dharamsala, von wo aus wir einen Tag später den Pass überqueren würden. Während mir die Wanderung zur tibetischen Grenze schwer fiel, hatte ich auf dem Weg nach Dharamsala meine Energie zurück. Nach zwei Tagen mit bewölktem Himmel genossen wir tolle Ausblicke auf die schneebedeckten Berge um uns herum und zum ersten Mal auf den mächtigen Gipfel des Manaslu. Wir ließen uns auf dem Weg Zeit, setzten uns zum Meditieren, machten Fotos und genossen den Moment.



Wenn sich alles fügt
Am Ende waren wir einer der Letzten, die im High Camp ankamen. Kurz nach unserer Ankunft aßen wir zu Abend und lagen um sieben Uhr im Bett. Es würde eine kurze Nacht mit nur wenigen Stunden Ruhe werden, bevor wir mitten in der Nacht aufstehen würden, um den Larkya La Pass auf 5106 Metern zu überqueren. Als ich im Bett lag und über den bevorstehenden Tag nachdachte, war ich voller Vorfreude, denn ich hatte das Gefühl, dass alles perfekt zusammenpasste. Der Großteil meiner Arbeit war erledigt und uns blieb nur noch, einfach den Tag zu genießen.


